Alles im Fluss - die Waalwege in Südtirol
Waalwege gehören zu den beliebtesten Wanderwegen im Alpenraum - malerisch gelegen und für Jedermann geeignet. Doch die Bedeutung dieser Wege liegt tiefer! Eine kurze Geschichte über mühsame Gemeinschaftsleistungen, schwindelfreie Waaler und einen neuen Blick auf einen altbekannten Weg. 
Schalenstein entlang des Weges. Ihre Funktion und ihr Alter ist bis heute ein Geheimnis.
Im Oktober wurde es noch einmal Sommer. Ich stehe an der renovierten Waalerhütte am Tscharser Waalweg, nehme einen Schluck Wasser aus meiner Flasche und
kremple meine Hosen hoch bis zu den Knien. Familienspaziergänge und Schulausflüge führten mich schon oft zum Tscharser und Stabener Waalweg. Heute allerdings mache ich mich auf den Weg, um die Geschichte hinter diesen beliebten Wanderwegen zu erfahren.


Jeder, der schon einmal am Naturnser Sonnenberg wanderte, wird nicht nur dessen ursprüngliche und geheimnisvolle Schönheit bemerkt haben, sondern hat wohl auch die elementare Kraft der Sonne am eigenen Leib gespürt. 315 Sonnentage freuen die Touristen, aber nicht die Bauern.
Ein spezielles Mikroklima macht Naturns zu den regenärmsten Orten der Ostalpen und so mussten die Bewohner früh Wege und Methoden finden, ihr Land trotzdem bewirtschaften zu können. So begannen sie bereits vor Jahrhunderten, ein ausgedehntes und engmaschiges Netz von Wasserkanälen anzulegen, die das lebensbringende Nass aus hochgelegenen Bächen und Quellen ableiteten. Um das Wasser transportieren zu können, gruben die Bauern mit primitivsten Geräten Erdkanäle, verlegten Holzrinnen und schlugen Kanäle in die Felsen.
Jeder Waalweg zeugt auch davon, was man zu erreichen vermag, wenn man als Gemeinschaft zusammenarbeitet.
Schloss Juval - Beginn und Ziel unserer Waalweg-Runde
Der Tscharser Waalweg führt ohne wirkliche Steigung über die Hänge des Sonnenbergs, aus der Puste zu kommen, ist fast unmöglich. Er und der darunter parallel verlaufende Stabener Waalweg laufen durch lichten Mischwald, Steppenlandschaft und Kastanienhainen. Kein Waal gleicht dem anderen. Ständig mussten die Erbauer auf wechselndes Gelände reagieren, Felsen, Wiesen, Wälder und den Verlauf dementsprechend anpassen. Jeder Weg ein Individuum sozusagen.
Ich wandere weiter. Eine junge Frau joggt schwungvoll an mir vorbei, die Haare wippen im Takt. Mir kommt eine Großfamilie entgegen, die Wanderstöcke klacken und alle schnattern aufgeregt durcheinander. Daneben immer der gleichmäßige Fluss des Wassers. Was heute so idyllisch und entspannend wirkt, war für den „Waaler“ harte und verantwortungsvolle Arbeit. Die Aufgabe des Waalers war es, den Wasserfluss konstant zu überwachen, bei Bedarf Unrat und Geäst zu entfernen oder den Waal zu reparieren. Blieb das gleichmäßige Klappern der Waalschelle, eine Art Wasserrad, aus, war der Waaler alarmiert. Die Überwachung und Instandhaltung der Anlagen waren oft mit Lebensgefahr verbunden, weshalb die Waaler meist hoch angesehene Männer waren. Neben dieser praktischen Arbeit waren sie aber auch verantwortlich, die Wassernutzungsrechte zu überwachen. Jeder Bauer durfte das Wasser nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Mengen auf seine Felder leiten. Auch damals gab es Schlitzohren und so kam es immer wieder zu Schlägereien, Bestechungen und sogar Gerichtsprozessen ob des Waalwassers.
Der Klettersteig Hoachwool gibt Einblicke, unter welcher Gefahr und mit welcher Ausdauer die damaligen Bauern den Waal errichten und warten mussten.
Nach einer Stunde komme ich an die Abzweigung zum Stabener Waalweg, steige hinunter und laufe ihn als Rundweg wieder zurück zum Schloss Juval. Kein Punkt entlang des Weges, von dem man keinen grandiosen Blick in den Vinschgau und das Meraner Land hat.
Die Sonne wandert immer weiter in den Westen und taucht das Tal in ein warmes, mattes Licht. Naturns ist immer schön, aber im Herbst liebt man es bis zur Ektase.
Nach einer Dreiviertelstunde stehe ich wieder unterhalb von Schloss Juval und blicke hinüber zum Klettersteig Hoachwool. Wo heute Kraxler an Stahlseilen gesichert ihre Fähigkeiten und ihren Mut auf die Probe stellen, verlief einst der gefährlichste Abschnitt des Naturnser Waals. In aufwendiger Arbeit wurden mit einfachsten Arbeitsgeräten Eisenstangen in den Fels gedrillt, um daran Holzkanäle zu befestigen, die das Wasser vom Schnalstal nach Naturns transportieren sollten. Bis heute erkennt man letzte Überreste dieser Konstruktion an den Felsen. Um diesen Teil zu warten, musste der Waaler in schwindelerregender Höhe durch Felswände klettern und über Steige balancieren, die kaum Halt boten. Die Arbeit war gnadenlos – wer stürzte, stürzte tief.
Um die Gefahr zumindest irgendwie zu mindern, wurden für diesen Abschnitt zwei Waaler berufen. Die einzigen Auswahlkriterien: ein fester Tritt und absolute Schwindelfreiheit. Heute würde man sie wohl Teufelskerle nennen. Im alten Rom gab es einen Spruch: „Wo die Natur nicht will, ist die Arbeit umsonst.“ Ich lächle. Schaue hinüber zur Wallburg, an deren Hängen sich das nächste Netz an Waalen verästelt. Schaue hinauf in den Vinschgau, in einigen Apfelanlagen drehen sich die Beregnungsanlagen, gespeist vom Wasser der althergebrachten Waale.
Die alten Römer haben wohl nicht mit dem Eifer und der Entschlossenheit der Südtiroler gerechnet.