Winterliche Impressionen vom Vigiljoch
Der Eindruck einer Region kann je nachdem, ob sie zum ersten Mal entdeckt oder nach einiger Zeit abermals besucht wird, verschiedene Schattierungen haben. Ein Ort kann unverändert oder radikal anders vorgefunden werden, im Einklang mit dem Wandel der Zeit. Eine winterliche Fahrt mit der Seilbahn auf das Vigiljoch hält – nach etlichen Jahren des Fernbleibens und gut eingeprägten Kindheitserinnerungen – vertraute Aussichten bereit, welche die Intensität der freudigen, mit dem Berg verbundenen Erlebnisse nicht mindern.
An Orten wie auf diesem Hochplateau scheinen die Stunden langsam und gemächlich zu verrinnen, während die Natur immerfort ihrem Lauf folgt. Der Winter trägt seinen Teil dazu bei: Durch den Schnee, der alles bedeckt und verhüllt, vermittelt die kalte Jahreszeit die Vision einer reinen und zeitlosen Landschaft.

Die Vorfreude, die ich auf der Fahrt nach oben empfinde, entspricht dem Gefühl meiner Kindheit, als mir das ungeduldige Warten auf einen Tag im Freien mitten in der verschneiten, kurzweiligen Natur Frieden und Ruhe schenkte. Heute wie damals lässt mich der tiefe Realitätsbezug und die Verbundenheit zur Gegenwart mit Genugtuung aufseufzen.
Die kurze Fahrt mit der Seilbahn zur Überbrückung des Höhenunterschiedes trägt wesentlich zum Charme des Ortes bei. In diesen Augenblicken in der Schwebe kann man innehalten, das Panorama betrachten und sich auf den Tag einstimmen. Der Verlauf der vor kurzem modernisierten Seilbahn folgt der Trasse der einstigen, 1912 gebauten Strecke. Die Seilbahn Vigiljoch ist die zweitälteste Europas und ein Schlüsselelement in der Geschichte des lokalen Tourismus.
Anfangs war das Vigiljoch vor allem Reiseziel für die noble Gesellschaft. Besonders wohlhabende Familien verbrachten ihren Urlaub in Meran zur Kur – mit dem kostbaren Wasser, das hier oben entspringt – und unternahmen auch im Winter Ausflüge. Franz Ferdinand von Österreich-Este, Erzherzog von Österreich-Ungarn, und seine Frau Sophie, Herzogin von Hohenberg, schwebten mit der Seilbahn den Berg hinauf, ebenso hatten Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Franz Kafka, Christian Morgenstern und Franz Lehár das Vergnügen.
Im Lauf der Zeit ließen die Gäste auf dem Vigiljoch diverse Ferienhäuser errichten, während die Bauern in der Regel Almhütten fürs Heu bauten.


Eine weitere Blütezeit begann in den Fünfzigerjahren, als die Seilbahn renoviert wurde und das Joch – auch dank neuer Aufstiegsanlagen – zu einem beliebten Wintersportziel in der Umgebung Merans wurde. In dieser Zeit fanden hier Wettbewerbe, Spaßrennen und lebendige Wintertage statt, an die sich viele noch erinnern. Der Sessellift brachte die Skifahrer auf die sanften Hänge, wo Familien und Skiclubs den Winter sportlich erlebten und Kinder ihre ersten Schwünge im Schnee machten.
Heute jedoch ist Skifahren hier nicht mehr möglich. Die klimatischen Bedingungen haben sich verändert, der Schnee ist nicht mehr verlässlich, und mit ihm verschwanden auch die Skischulen und der organisierte Wintersport. Was geblieben ist, sind die offenen Flächen, die stillen Hänge und das Wissen um eine vergangene Nutzung, die den Ort lange geprägt hat.
Statt sportlicher Geschwindigkeit steht nun das bewusste Erleben der Landschaft im Vordergrund. Das Vigiljoch hat sich neu ausgerichtet und bietet heute Raum für Ruhe, Naturbeobachtung und langsame Bewegung – ein Wintererlebnis jenseits von Pisten und Liften.

Wanderer finden heute wie damals eine unberührte, heile Umwelt vor. Kein Auto fährt hier. Es gibt nicht viele Bergdörfer, die so unverfälscht sind und in denen man sich frei und ungestört zu Fuß bewegen kann. Von der Bergstation führen zahlreiche Wege mit angenehmer Steigung zu mehreren, leicht erreichbaren Almhütten, die auch in den Wintermonaten geöffnet sind.
In dieser Jahreszeit ergänzt sich das Vergnügen eines Spaziergangs auf schneebedeckten Wegen perfekt mit der Annehmlichkeit ruhiger Momente in den verschiedenen, über den Berg verstreuten Gasthäusern. Eine warme Mahlzeit, ein Stück Kuchen oder Apfelstrudel, ein Glas guten einheimischen Weins sind die redliche Belohnung am Ziel.

Auf knirschendem Schnee über winterliche Wiesen und durch verschneite Wälder zu wandern ist ein besonderes Erlebnis. Mit Schneeschuhen – die an der Talstation gemietet werden können – lässt sich die Landschaft sicher und intensiv erkunden. Eine dieser Schneeschuhwanderungen führt direkt zur antiken (ca. 1100), malerischen St.-Vigilius-Kirche, die dem Joch seinen Namen verleiht.
Das frühromanische Gebäude mit Glockenturm strahlt etwas Geheimnisvolles aus. Das Kirchlein, im Inneren mit wunderschönen Fresken aus dem 14. Jahrhundert, soll auf einem prähistorischen Kultplatz errichtet worden sein. Auf dem Hausberg von Lana wurden Funde aus der Steinzeit sowie Schalensteine aus der Bronzezeit mit rätselhaften Gravuren entdeckt.
Es wird auch behauptet, dieser Ort sei ein mystischer Kraftort, der unzählige ferne Geschichten verbirgt. Ein weiterer magischer Ort ist die Schwarze Lacke: Um den Bergsee ranken sich viele Mythen und Legenden. Folgt man dem Weg hinter dem Kirchlein, gelangt man direkt dorthin und genießt gleichzeitig eine beeindruckende Sicht auf die Dolomiten.
Der kleine, in einen Wald eingebettete Alpensee färbt sich im Sommer, gesprenkelt mit weißen Seerosen, besonders dunkel. Im Winter bedeckt ihn eine Eisschicht, die – wenn es die Bedingungen erlauben – die Landschaft in eine stille, märchenhafte Szenerie verwandelt.
Endlich angekommen. Diese Stille hier auf der Hochebene durchfließt mich und verstärkt mein Wohlbefinden im Kontakt mit der Natur. Die Luft ist beißend, aber erfrischend klar. Der Körper entspannt sich bei jedem Atemzug. Es heißt, Schnee habe keinen Geruch – doch hier nehme ich ein einzigartiges Bukett purer Natur wahr.
Der Tag mit wolkenlosem Himmel breitet sich in seiner ganzen Fülle vor mir aus, wie in meinen schönsten Kindheitserinnerungen.

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