Eine Ode an die Füße
Eine Ode an die Füße
Mit seiner Erfindung „Five Fingers“ schenkt der Naturnser Robert Fliri uns allen wieder ein Gefühl, das die meisten seit der Kindheit vergessen haben – das des Barfußlaufens. Bei einer gemeinsamen Tour entdecken wir unsere Füße als Sinnesorgan wieder.
Wir wandern durch die Berge, rennen zum Zug, schlendern durch Städte, und wenn wir es eilig haben, nehmen wir zwei Stufen auf einmal. Haben wir uns dabei eigentlich je Gedanken darüber gemacht, welch komplexer Vorgang das Gehen ist? Einmal in Bewegung gesetzt, ticken unsere Beine gleichmäßig wie ein Uhrenwerk. Als einzige Spezies des Planeten bewegt sich der Mensch aufrecht auf zwei Füßen und konnte so selbst die entlegensten Gebiete der Welt besiedeln. Ungefähr ein Jahr lang lernen wir als Kleinstkind das Gehen und – fast wie Fahrradfahren – verlernen es nie wieder.

Robert, unterschätzen wir unsere Füße?
Der menschliche Fuß ist ein Meisterwerk, einzigartig in der Natur. Er besteht aus einem komplizierten System aus Knochen, Muskeln, Sehnen, Gewebe, Federn und Hebeln, die die verschiedensten Bewegungen möglich machen. Wer barfuß läuft, kann z. B. nicht umknicken. Noch faszinierender ist allerdings – und das wissen wenige – die große Anzahl von Rezeptoren in unseren Fußsohlen. Sie kommunizieren über die Nervenstränge ununterbrochen mit dem menschlichen Gehirn. Dadurch erhält es wichtige Informationen über die Umgebung und die Beschaffenheit des Untergrundes, die dem Menschen ein schnelles und sicheres Fortbewegen vor allem auf unebenen Böden erst ermöglichen.


Die Füße als Augen sozusagen? Robert Fliri lacht, und obwohl er 1976 geboren wurde, wirkt er in diesen Momenten viel jünger. Wir sitzen auf dem Dorfplatz in Plaus und unterhalten uns über das, was die renommierte New York Times 2007 als die „beste Erfindung des Jahres“ titulierte: Die Five Fingers, deren Idee am Naturnser Sonnenberg geboren wurde. Damit nicht nur darüber geredet wird, schlüpfe ich während des Gesprächs selber in den „Handschuh für Füße“ und empfehle hiermit jedem, der gerne einmal im Mittelpunkt stehen möchte, in Five Fingers ins Café zu gehen: Neugierige Blicke sind garantiert.
Zugegebenermaßen lässt sich über ihren ästhetischen Wert streiten, das Prinzip dieser „künstlichen Hornhaut“ leuchtet aber ein und Robert widerspricht meiner Annahme, dass man Gehen nicht verlernen kann: „Wenn wir in Schuhen laufen, haben wir ein gänzlich anderes Bewegungsmuster als wenn wir barfuß laufen. Durch gepolsterte Schuhe, sitzende Tätigkeiten und glatte Böden stimulieren wir unsere Füße nicht mehr. Die Folge sind schwache Muskeln und Bänder sowie eine gehemmte, fast schon ängstliche Art des Gehens – vor allem dort, wo das gewohnte urbane Umfeld mit seinen immer gleichen Tritten und Stufen einer natürlichen Umgebung weicht.“ Immer wieder steht Robert auf, um seine Erklärungen mit praktischen Beispielen zu untermauern, erzählt vom Vorderfußlauf, Fersenaufprall und Knieschmerzen. Ich nicke nachdenklich. „Schwache Füße sind in der Ersten Welt weit verbreitet. Das dämpfende und stützende Schuhwerk ist zwar gut gemeint, aber unterfordert unseren Bewegungsapparat. Barfußlaufen, vor allem auf unebenem natürlichem Untergrund ist da ein guter Ausgleich.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Und obendrein fühlt es sich einfach gut an, den Boden unter den Füßen wieder richtig zu spüren.“

Das Konzept der Five Fingers war auch deshalb so revolutionär, weil es plötzlich einfach all das wegließ, was den Schuh bisher ausmachte – schützen, federn, stützen. Nachdem mehrere Firmen den Entwurf ablehnten, wagte sich der italienische Sohlenhersteller Vibram an das riskante Projekt und brachte 2005 das erste Modell auf den Markt. In den USA stieg die Nachfrage rasant: „Die Amerikaner sind grundsätzlich offener für Neues, aber so schnell das Interesse da ist, so schnell verlieren sie es wieder. Der europäische Markt ist konservativer, wächst langsamer, aber nachhaltiger.“ Kein Wunder, dass der unerwartete Erfolg ein Raunen in der konventionellen Schuhbranche auslöste. Die Natur weiß vermutlich besser, was sie tut, als die gängigen Sportschuhhersteller.

Dann leeren wir die Kaffeetassen, greifen unsere Sportrucksäcke und Robert sagt: „Ich kenne da einen Ort am Sonnenberg.“
Was bedeutet dir der Sonnenberg?
Ich verbrachte den Großteil meiner Kindheit und Jugend am Sonnenberg. Auch später, wenn ich meine Großeltern besuchte, suchte ich immer wieder andere Routen, um zum Hof zu kommen. Dabei entstand 1999 auch die Idee zu den Five Fingers. Bis heute liebe ich es, am Sonnenberg querfeldein durch das Gelände zu streifen. Es sind die alten, ursprünglichen Wege, die mich faszinieren und die einzigartig sind. Südtirols Landschaft ist durchzogen von ihnen, ich nenne sie auch Kapillarwege, und wir müssen sie erhalten. Leider geschieht das Gegenteil und wir versuchen überall, planierte und geschotterte Wege zu bauen und die Leute auf breite Forstwege zu lenken. Das ist grundfalsch. Unser Körper ist für natürlichen Untergrund mit Wurzeln und Steinen gemacht und bewegt sich dort intuitiv, schnell und sicher.


Wir steigen an der Wegmarkierung Nr. 10 den Sonnenberg hoch und bald schon zweigt Robert vom Weg auf einen anderen, nicht markierten Pfad ab. Geschmeidig und pfeilschnell bewegt er sich durch das Gelände und ich habe Mühe mitzuhalten. Wir befinden uns jetzt auf einem jener alten Wege, die jahrhundertelang die Höfe des Sonnenbergs mit der Talsohle verbunden haben. Während einige davon heute zu Wanderwegen ausgebaut wurden, sind andere beinahe in Vergessenheit geraten. Wir gehen zügig weiter, die Eichenblätter des letzten Winters rascheln unter unseren Sohlen, Dornen krallen sich in meine Haut, ich entdecke eine frische Rehspur im Staub. Während wir immer vorwärts wandern, gehe ich gleichzeitig auch zurück: Denke an die Anfänge dieser Wege, warum und wie sie wohl entstanden sind. An die Generationen von Menschen, die darauf gegangen sind, Spur über Spur, all die Gespräche, Geheimnisse, Abschiede, die diese Wege erlebt haben und für immer für sich behalten werden. Es ist, als wären plötzlich alle Sinne voll eingeschalten.

Die Füße passen sich dem Untergrund an, legen sich perfekt über Steine und die Zehen suchen Halt im Sand. Ein spannendes Gefühl. Ich erwische mich, wie ich manchmal bewusst über Wurzeln balanciere und über Steine steige, aus reiner Neugierde auf das Gefühl. Vor uns erhebt sich eine markante Kuppe im Wald, wir setzen uns hin und ich spüre ein leichtes Ziehen in meiner Wade. Robert lächelt zufrieden.
Als Rückweg schlägt er einen schmalen Pfad vor, der kaum sichtbar in den Wald führt. Wildwechsel, mehr kann das nicht sein, denke ich mir. Leichtfüßig geht er voraus, ich haste, so schnell es geht, hinterher und bin einmal mehr über den festen Bodenkontakt der Five Fingers erstaunt. Doch dann wird der Schritt jäh unterbrochen – vor mir ein Abgrund. Ich schaue über den Rand, die glatten Felsen fallen mindestens zwei Meter ab, hier und dort kleine Stufen im Gestein, wo ich Halt finden könnte. Hektisch versuche ich die Situation und mich einzuschätzen. Ich zaudere.

Robert, was kann uns die Natur lehren?
Die Natur lehrt mir Eigenverantwortung und Selbstvertrauen. Man muss sich selber kennen, man muss sich selber einschätzen: Schaffe ich den Aufstieg? Ist die Wand zu steil? Ist der Graben zu weit? Man muss eine Entscheidung treffen und dann auch die Konsequenzen tragen. Viele Menschen leben heute in einem Zustand ständiger Sicherheit, Kinder wachsen in einer fast schon ängstlichen Umgebung auf. Umso wichtiger sind der Zugang zur Natur und das Erlebnis in ihr, um dieser Entwicklung etwas entgegenzustellen. Man darf die Natur aber auch nicht romantisieren oder esoterisch betrachten. Die Natur ist Chaos, das zeigt sich an den unförmigen Felsen, an den knorrigen Wurzeln, der wuchernden Vegetation. Sie ist kein durch und durch sicherer Raum, aber wenn man sich in ihr bewegt, lernt man wichtige Eigenschaften fürs Leben.


Wie jeden Abend schnüre ich auch nach dem Treffen mit Robert noch meine Laufschuhe. Heute allerdings fällt mir die Beschreibung auf, lese von federnder Mittelsohle und energetischer Dämpfung, von Fersenplug und Silikonmaterial für Stoßabsorption. Ich bin bei Kilometer 3, als ich mich – wie am Vormittag – leichtfüßig von einer Wurzel abstoßen will. Ich stolpere.


Achtung: Bleiben Sie bei Ihren Wanderungen immer auf den markierten und ausgeschilderten Wanderwegen!


Text: Petra Götsch
Photos: Peter Santer

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